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1. KAPITEL
Eine schweifende Klippe
Ein seltsames Ereignis, ein unerklärtes, und eine unerklärbare Naturerscheinung, die sich im Jahr 1866 begab, ist ohne Zweifel noch
unvergessen. Nicht allein die Bevölkerung der Hafenstädte war
durch Gerüchte beunruhigt, im Binnenland der öffentliche Geist
—6—
aufgeregt, besonders die Seeleute gerieten in Bewegung. Die Kaufleute und Reeder, Schiffsherren, Patrone und Kapitäne in Europa
und Amerika, Offiziere der Kriegsmarine aller Länder und dann
die Staatsregierungen der beiden Weltteile widmeten der Sache im
hohen Grad ihr Interesse.
Die Tatsache ist, daß seit einiger Zeit manche Schiffe auf hoher
See einem »enormen Gegenstand« begegneten, lang, spindelförmig, mitunter phosphoreszierend, unendlich größer und rascher
als ein Walfisch.
Die Angaben über diese Erscheinung, wie sie in den Schiffsbüchern verzeichnet wurden, betrafen mit ziemlicher Genauigkeit
die Struktur des fraglichen Gegenstands oder Geschöpfs, die unerhörte Schnelligkeit und erstaunliche Kraft seiner Bewegungen, die
besonderen Lebensäußerungen, die ihm eigentümlich schienen.
War es ein Tier von der Walfischgattung, so übertraf es an Umfang weit alle von der Wissenschaft bisher verzeichneten. Cuvier,
Lacépède, Dumeril, Quatrefages – hätten sicher die Existenz eines
solchen Ungeheuers nicht gelten lassen – sofern sie es nicht selbst
gesehen, d.h. mit eigenen kundigen Augen gesehen.
Lassen wir die ängstlichen Schätzungen, die diesem Gegenstand
200 Fuß beimaßen, beiseite, verwerfen die übertriebenen Angaben
von der Breite einer Meile und der Länge dreier – und halten uns
an das Durchschnittliche der wiederholt gemachten Beobachtungen, so könnte man doch behaupten, daß dieses phänomenale Wesen – sofern es existierte – alle von den Ichthyologen bisher angenommenen Dimensionen bei weitem übertraf.
Aber es existierte; die Tatsache an sich war nicht in Abrede zu
stellen, und bei der Neigung, womit sich die Menschen dem Wunderbaren zuwenden, begreift man leicht die Bewegung, die diese
übernatürliche Erscheinung in der ganzen Welt hervorbrachte. Sie
ins Reich der Fabeln zu verweisen ging schon nicht mehr an.
In der Tat begegnete am 20. Juli 1866 das Dampfboot ›Governor Higginson‹, der Calcutta and Burnach Steam Navigation Company gehörig, dieser schwimmenden Masse 5 Meilen östlich von
den Küsten Australiens. Kapitän Baker glaubte anfangs auf eine
unbekannte Klippe zu treffen; er war auch bereits im Begriff, ihre
—7—
Lage genau zu bestimmen, als von dem unerklärlichen Gegenstand
aus zwei Wasserstrahlen 150 Fuß hoch zischend in die Luft emporschossen. Demnach, sofern nicht auf dieser Klippe intermittierende Quellen eines Geysirs sich befanden, hatte es die ›Governor
Higginson‹ mit nichts anderem zu tun als einem bisher unbekannten Seesäugetier, das durch seine Luftlöcher Wasserstrahlen, mit
Luft und Dunst gemischt, ausstieß.
Die gleiche Tatsache wurde am 23. Juli desselben Jahres in den
Gewässern des Pazifiks von der ›Christobal Colon‹ der West India and Pacific Steam Navigation Company beobachtet. Demnach
war dieses außerordentliche Seetier imstande, mit erstaunlicher
Schnelligkeit seine Stellung zu wechseln, da es von der ›Governor
Higginson‹ und der ›Christobal Colon‹ nach Verlauf von 3 Tagen
an zwei Punkten beobachtet wurde, die der Karte nach über 700
Seemeilen voneinander entfernt sind.
14 Tage später, als 2.000 Meilen von da die ›Helvetia‹ von der
Company Nationale und die ›Shannon‹ von der Royal Mail in dem
zwischen den Vereinigten Staaten und Europa gelegenen Teil des
Atlantiks in entgegengesetzter Richtung fuhren, signalisierten sie
sich das Ungeheuer unterm 42 ° 15 ʹ nördl. Breite und 60 ° 35 ʹ westl.
Länge vom Meridian zu Greenwich aus. Bei dieser gleichzeitigen
Beobachtung glaubte man die Länge des Tieres zum mindesten
auf etwa 350 engl. Fuß (ca. 106 Meter) anschlagen zu können. Die
größten Walfische aber, wie sie in der Gegend der Aleuten vorkommen, haben die Länge von 150 Fuß niemals überschritten.
Als diese Nachrichten Schlag auf Schlag eintrafen, machten
neue an Bord des Pereira gemachte Beobachtungen, ein Zusammenstoßen der ›Aetna‹ mit dem Ungeheuer, ein von den Offizieren
der französischen Fregatte La Normandie vorgenommenes Protokoll, eine sehr ernste, vom Generalstab des Kommodore Fitz-James
an Bord des Lord Clyde gemachte Aufnahme – auf die öffentliche
Meinung den tiefsten Eindruck. In den Ländern leichten Humors
scherzte man über das Phänomen, aber die ernsten und praktischen Länder, England, Amerika, Deutschland, befaßten sich lebhaft damit.
Überall in den großen Verkehrsmittelpunkten kam das Unge-
—8—
heuer in Schwung; man besang es in den Kaffees, man verspottete
es in den Journalen, man spielte es in den Theatern. Die Enten bekamen eine hübsche Gelegenheit, Eier in allen Farben zu legen. Die
Journale gaben in Abbildungen alle riesigenmäßigen Phantasiebilder zum besten, vom weißen Walfisch, dem schrecklichen »MobyDick« der Hyperboräerländer bis zum maßlosen Kraken, der mit
seinen Fühlhörnern ein Fahrzeug von 500 Tonnen umwickeln und
in den Abgrund des Ozeans hinabziehen kann. Man zitierte sogar
Stellen aus dem Altertum, die Ansichten des Aristoteles und Plinius, die für die Existenz solcher Ungeheuer sprachen, sodann die
norwegischen Berichte des Bischofs Pontoppidan, die Erzählungen
Paul Heggedes, und endlich die Berichte Harringtons, dessen Ehrlichkeit nicht anzufechten ist, wenn er behauptet, er habe an Bord
des Castillan im Jahr 1857 diese enorme Schlange gesehen. –
Darauf begann eine unendliche Polemik der Gläubigen und
Ungläubigen in den gelehrten Gesellschaften und den wissenschaftlichen Journalen. Die »Frage des Ungeheuers« erhitzte alle Gemüter. Die Journalisten, die wetteifernd mit den Schöngeistern die
Wissenschaft vertraten, vergossen, verbrauchten in diesem merkwürdigen Feldzug tonnenweise Tinte; manche sogar etliche Tropfen Blut, denn von der Seeschlange gingen sie zu beleidigenden
Persönlichkeiten über.
6 Monate lang wurde der Krieg mit abwechselndem Erfolg geführt. Auf die gründlichen Artikel des Geographischen Instituts
in Brasilien, der Königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin,
der Britischen Gesellschaft, der Smithsonschen Anstalt zu Washington, auf die Erörterungen des Indian Archipelago, des Cosmos
des Abbé Moigno, der Petermannschen Mitteilungen, auf die wissenschaftliche Chronik der großen Journale entgegnete die kleine
Presse mit unerschöpflicher Laune. Die geistreichen Schriftsteller
parodierten ein von den Gegnern des Ungeheuers zitiertes Wort
Linnés, indem sie behaupteten, »die Natur schaffe keine Dummköpfe«, und beschworen ihre Zeitgenossen, nicht die Natur Lügen
zu strafen, indem sie die Existenz des Kraken, der Seeschlangen,
des »Moby-Dick« und andere Hirngespinnste irrsinniger Seeleute
gelten ließen. Endlich versetzte, in einem Artikel eines sehr ge-
—9—
fürchteten satirischen Journals, der beliebteste seiner Redakteure,
bei einem Überblick über das Ganze, dem Ungeheuer einen letzten
Streich, und erlegte es inmitten allgemeinen hallenden Gelächters.
Der Geist siegte über die Wissenschaft.
Während der ersten Monate des Jahres 1867 hielt man die Frage
für beseitigt, und es schien nicht, als würde sie wieder auftauchen,
als neue Tatsachen zur Kenntnis des Publikums kamen. Es handelte sich dabei nicht mehr um die Lösung eines wissenschaftlichen Problems als die Vermeidung einer wirklichen, ernsten
Gefahr. Die Frage nahm eine andere Gestalt an. Das Ungeheuer
wurde wieder Inselchen, Felsen, Klippe, aber eine bewegliche, unbestimmbare und unfaßbare.
Am 5. März 1867 stieß die ›Moravian‹ von der Montreal Ocean
Company, unter 27 ° 30 ʹ Breite und 72 ° 15 ʹ Länge, bei Nacht gegen einen Felsen, der in jener Gegend von keiner Karte verzeichnet
war. Nur durch die ausgezeichnete Beschaffenheit ihres Rumpfs
und ihre Schnelligkeit bei 400 PS entging er der Gefahr, mit seinen
237 Passagieren unterzugehen.
Der Vorfall ereignete sich morgens früh, als schon der Tag
graute. Man untersuchte das Meer genau, sah aber nichts als ein
starkes Kielwasser, das auf 3 Kabellängen das Gewässer brach. Ob
die ›Moravian‹ gegen einen Felsen gestoßen, konnte man nicht
wissen; aber als man sie im Ausbesserungsbassin untersuchte, fand
sich, daß ein Teil ihres Kiels zerbrochen war.
Diese so bedeutende Tatsache wäre vielleicht vergessen worden,
hätte sie sich nicht 3 Wochen später unter gleichen Bedingungen
wiederholt. Nur daß diesmal durch die Nationalität des betroffenen Schiffs und den Ruf der Gesellschaft, der es gehörte, das Ereignis das größte Aufsehen bekam.
Der berühmte englische Reeder Cunard ist weltbekannt. Er
gründete im Jahr 1840 einen Postkurs zwischen Liverpool und Halifax mit drei hölzernen Schiffen von 400 PS und 1.162 Tonnen
Gehalt. Dieses Material vergrößerte sich mit den wachsenden Geschäften nach und nach bedeutend; besonders im Jahr 1853 mit
einer Reihe von Schiffen ersten Ranges, ›Arabia‹, ›Persia‹, ›China‹,
›Scotia‹ usw.; und im Jahr 1867 besaß sie 12 Fahrzeuge, worunter
— 10 —
4 Schraubendampfer. Die Unternehmung wurde mit größter Geschicklichkeit geleitet, und ihre Geschäfte waren vom besten Erfolg
gekrönt. Seit 26 Jahren, da die Schiffe der Gesellschaft Cunard den
Atlantik befuhren, ist von 2.000 Fahrten nicht eine einzige mißglückt, nie kam eine Verspätung vor, nie ist ein Brief, ein Mensch
oder ein Schiff abhanden gekommen oder zugrunde gegangen. Darum erregte auch der Unfall, der einem seiner besten Schiffe widerfuhr, so großes Aufsehen.
Am 13. April 1867 fuhr die ›Scotia‹ unter 15 ° 12 ʹ Länge und
45 ° 37 ʹ Breite, bei ruhigem Meer und günstigem Wind mit einer
Schnelligkeit von 13 Knoten und vollkommen regelmäßiger Radbewegung. Am Abend, als eben die Passagiere im großen Salon ihre
Vesper nahmen, verspürte man einen wenig merkbaren Stoß. Er
kam eher von einem schneidenden Instrument her, als von einem
bohrenden oder stoßenden und schien so leicht, daß kein Mensch
an Bord dadurch beunruhigt wurde, bis die Leute des Schiffsraums
aufs Verdeck stürzten mit dem Geschrei: »Wir gehen unter!«
Augenblicklich gerieten die Passagiere in großen Schrecken;
aber Kapitän Anderson war imstande, sie unverzüglich zu beruhigen. In der Tat konnte die Gefahr nicht bedeutend werden, da die
›Scotia‹ durch wasserdichte Verschläge in sieben Abteilungen geteilt war, so daß sie leicht einem Eindringen des Wassers gewachsen war. Der Kapitän begab sich sofort in den Schiffsraum und
erkannte, daß das Wasser in das fünfte Gefach durch ein beträchtliches Leck eindrang. Dieses Fachwerk war zum Glück nicht dasjenige, welches die Kessel enthielt, sonst wären die Feuer mit einemmal ausgelöscht worden.
Der Kapitän ließ sogleich halten, ein Matrose tauchte unter, um
den Schaden zu untersuchen, und es fand sich ein 2 Meter breites
Loch im Kiel. So konnte es nur mit halber Schnelligkeit weiterfahren und kam um 3 Tage verspätet in Liverpool an.
Bei der Ausbesserung fand sich ein regelmäßiger Riß in Form
eines gleichschenkeligen Dreiecks. Der Bruch des Eisenblechs
zeigte, daß das durchbohrende Werkzeug ausnehmend hart gewesen sein mußte; auch mußte es, nachdem es mit enormer Gewalt
— 11 —
eingedrungen, sich durch eigene Bewegung in unerklärbarer Weise
wieder herausgezogen haben.
Diese Tatsache setzte die öffentliche Meinung in leidenschaftliche Bewegung. Von nun an wurden Unfälle zur See, von denen
man nicht eine bestimmte Ursache wußte, auf Rechnung des Ungeheuers gesetzt, und das phantastische Tier mußte alle solche
Schiffbrüche sich zuschreiben lassen.
— 12 —
Da nun, mit Recht oder Unrecht, die Beschuldigung sich erhob,
daß der Verkehr in gefährlicher Weise gestört sei, so verlangte das
Publikum aufs entschiedenste, daß die Meere endlich um jeden
Preis von dem fürchterlichen Ungetüm befreit würden.
2. KAPITEL
Für und Wider
Zur Zeit, als diese Ereignisse vorfielen, kam ich von einer wissenschaftlichen Untersuchungsreise, welcher die französische Regierung mich, als Professor der Naturgeschichte, beigesellt hatte, aus
Nebraska in den Vereinigten Staaten zurück. Gegen Ende März
kam ich nach 6monatigem Aufenthalt in Nebraska mit kostbaren
Sammlungen zu New York an und meine Abreise nach Frankreich
war auf Anfang Mai festgesetzt. Ich beschäftigte mich eben damit,
inzwischen meine mineralogischen, botanischen und zoologischen
Schätze zu ordnen, als der Unfall der ›Scotia‹ sich ereignete.
Ich war über die Tagesfrage vollständig in Kenntnis gesetzt.
Ich hatte alle amerikanischen und europäischen Journale gelesen
und abermals gelesen und war dadurch nicht weitergekommen.
Das Geheimisvolle machte mir zu schaffen. Bei der Unmöglichkeit, mir eine Meinung zu bilden, schwankte ich von einem Extrem
zum andern. Daß etwas daran war, konnte nicht mehr zweifelhaft
sein, und die Ungläubigen waren eingeladen, ihren Finger auf die
Wunde der ›Scotia‹ zu legen.
Bei meiner Ankunft zu New York war die Frage brennend.
Die Hypothese einer schwimmenden Insel, einer unerreichbaren
Klippe, die von einigen urteilsunfähigen Köpfen aufgebracht worden, war bereits aufgegeben. Und in der Tat, sofern nicht solch
eine Klippe eine Maschine im Leib hatte, wie konnte sie so reißend
schnell die Stelle wechseln.
Ebenso wurde der Gedanke an einen herumschwimmenden
Schiffsrumpf aufgegeben, gleichfalls wegen der Schnelligkeit, womit der Gegenstand seinen Platz wechselte.
Es blieben also noch zwei mögliche Lösungen der Frage, die
— 13 —
beide Anhänger fanden: Die einen hielten den Gegenstand für ein
Ungeheuer von kolossaler Kraft; die anderen für ein unterseeisches
Fahrzeug von außerordentlicher Bewegkraft.
Diese letzte Annahme, obwohl statthaft, konnte doch nach den
in beiden Weltteilen angestellten Untersuchungen nicht festgehalten werden. Daß ein einzelner Privatmann eine solche Maschine
zur Verfügung habe, war unwahrscheinlich. Wie hätte deren Verfertigung geheim bleiben können?
Nur eine Regierung konnte im Besitz einer solchen Zerstörungsmaschine sein, und in dieser unheilvollen Zeit, wo der Mensch
sich’s angelegen sein läßt, die Macht der Kriegswaffen zu verstärken, war es möglich, daß ein Staat ohne Wissen des andern mit
einer solchen fürchterlichen Maschine einen Versuch machte. Auf
die Chassepots folgten die Torpedos, auf die Torpedos die unterseeischen Sturmböcke, hernach – die Reaktion.
Aber diese Idee einer Kriegsmaschine mußte gegenüber den
Erklärungen der Regierungen fallengelassen werden. Da es sich
hier um ein allgemeines öffentliches Interesse handelte, da der
überseeische Verkehr darunter litt, so ließ sich die Ehrlichkeit der
Regierungen nicht in Zweifel ziehen. Zudem konnte man nicht
annehmen, daß der Bau eines solchen unterseeischen Fahrzeugs
dem Publikum verborgen geblieben wäre. Unter solchen Umständen das Geheimnis zu bewahren ist schon für einen Privatmann
schwer und für einen Staat, dessen Handlungen von den rivalisierenden Mächten unablässig überwacht werden, vollends unmöglich.
Also wurde nach den in England, Frankreich, Rußland, Preußen, Spanien, Italien, Amerika, selbst in der Türkei angestellten
Nachforschungen die Hypothese eines unterseeischen Monitors
definitiv aufgegeben.
Es bekam also die Idee eines »Ungeheuers« die Oberhand, trotz
der unablässigen Späße, womit die kleine Presse sie verfolgte; und
auf diesem Weg ließ sich die Phantasie bald zu den lächerlichsten
Träumen einer phantastischen Ichthyologie verleiten.
Bei meiner Ankunft zu New York erwiesen mir manche Männer
die Ehre, mich über die fragliche Erscheinung um meine Ansicht
— 14 —
zu ersuchen. Ich hatte in Frankreich einen zweibändigen Quartanten unter dem Titel: ›Die Geheimnisse der großen unterseeischen
Tiefe‹, erscheinen lassen. Dieses besonders von der gelehrten Welt
gut aufgenommene Buch machte aus mir eine Spezialität in diesem
noch ziemlich unklaren Teil der Naturwissenschaft. Es wurde mein
Gutachten begehrt. Solange ich die Wirklichkeit des Tatsächlichen
in Abrede stellen konnte, verhielt ich mich durchaus verneinend.
Aber bald mußte ich, aufs äußerste gedrängt, mich kategorisch erklären. Und sogar wurde der »ehrenwerte Pierre Arronax, Professor am Museum zu Paris«, vom ›New York Herald‹ öffentlich aufgefordert, irgendeine Ansicht über die Sache zu formulieren.
Ich machte mich daran. Ich sprach, weil ich nicht mehr schweigen konnte. Ich erörterte die Frage von allen Seiten, politisch und
wissenschaftlich, und gebe hier den Auszug eines sehr umfangreichen Artikels, den ich am 30. April veröffentlichte.
»Also«, sagte ich, »nachdem ich der Reihe nach die verschiedenen Hypothesen einer Prüfung unterzogen, muß man jede andere
Annahme verwerfen und notwendig die Existenz eines Seetiers
von außerordentlicher Kraft gelten lassen.
Die großen Tiefen des Ozeans sind uns völlig unbekannt; die
Sonde hat sie nicht erreichen können. Was geht in diesen Tiefen
vor? Was für Geschöpfe leben 12 - bis 15.000 Meilen unter der
Meeresoberfläche, oder können da leben? Wie sind diese Tiere organisiert? Darüber kann man kaum eine Vermutung aufstellen.
Jedoch kann die Lösung des mir vorgelegten Problems die Form
eines Dilemmas annehmen.
Entweder wir kennen alle verschiedenen Gattungen von Geschöpfen, die unseren Planeten bevölkern, oder wir kennen sie
nicht.
Wenn wir sie nicht alle kennen, wenn die Natur in der Ichthyologie noch Dinge enthält, die für uns Geheimnisse sind, so darf
man wohl die Existenz von Fischen oder Seesäugetieren, neuen Arten oder selbst Gattungen, von einer ihnen eigentümlichen Organisation annehmen, die die von der Sonde unerreichbaren Schichten
bewohnen und durch irgendein Ereignis, eine Grille, Laune, wenn
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man will, in langen Zwischenräumen zu dem Niveau der Oberfläche des Ozeans heraufgeführt werden.
Kennen wir dagegen alle lebenden Gattungen, so muß man notwendig das fragliche Tier unter den bereits aufgenommenen Seegeschöpfen suchen, und in diesem Fall wäre ich geneigt, die Existenz eines Riesennarwals anzunehmen.
Der gemeine Narwal oder das See-Einhorn erreicht oft eine
Länge von 60 Fuß. Nehmen wir diese Dimension fünffach, selbst
zehnfach, geben wir diesem Tier eine seiner Größe entsprechende
Kraft, verstärken wir seine Angriffswaffen, so haben wir das vorausgesetzte Ungeheuer, das imstande wäre, die ›Scotia‹ anzubohren
und den Rumpf eines Dampfboots anzutasten.
In der Tat hat der Narwal zur Waffe eine Art Degen von Elfenbein, eine Hellebarde, wie einige Naturforscher sich ausdrücken. Es
ist ein Hauptzahn von der Härte des Stahles. Man hat solche Zähne
in den Körpern von Walfischen gebohrt gefunden, die der Narwal
beständig mit Erfolg angreift. Andere sind mit Mühe aus Schiffskielen gezogen worden, die sie durch und durch gebohrt hatten. Das
Museum der Naturgeschichte zu Paris besitzt ein solches Horn, das
2 Meter 25 lang und an seiner Basis 48 Zentimeter stark ist!
Nun! Nehmen wir diese Waffe zehnmal so stark an, das Tier
zehnmal kräftiger, lassen wir es mit einer Schnelligkeit von 20 Meilen in der Stunde hinschießen, multiplizieren wir seine Masse mit
seiner Geschwindigkeit, so haben wir einen Stoß, der eine Katastrophe, wie die gedachte, hervorbringen kann.
Demnach, bis auf weitere Information, möchte ich meine Vermutung auf ein See-Einhorn von kolossalen Dimensionen richten,
das nicht sowohl mit einer Hellebarde, als mit einem wirklichen
Sporn bewaffnet ist, wie ihn die Panzerfregatten haben, denen es
etwa an Umfang und Bewegungskraft gleich käme.
So würde das unerklärliche Phänomen seine Erklärung finden –
sofern nicht etwa nichts daran ist, trotz dem, was man gesehen und
vermutet hat – was auch möglich ist!«
Diese letzteren Worte waren meinerseits eine Feigheit; ich wollte
bis auf einen gewissen Grad meine Professorenwürde wahren und
nicht den Amerikanern zum Lachen preisgeben, denn die lachen
— 16 —
tüchtig, wenn sie lachen. Ich wollte nur eine Hintertür offenhalten.
Im Grunde ließ ich die Existenz des »Ungeheuers« gelten.
Mein Artikel wurde warm besprochen und fand großen Beifall,
gewann sich eine Anzahl Anhänger. Die Lösung, die ich vorschlug,
ließ übrigens der Phantasie freien Spielraum. Der menschliche
Geist hat Gefallen an solchen großartigen Begriffen übernatürlicher Wesen.
Das Meer ist gerade das beste Element, der einzige Ort, wo solche Riesen – neben denen Elefanten und Rhinozerosse nur Zwerge
sind – entstehen und sich entwickeln können! Die Massen des
Ozeans enthalten die größten Gattungen bekannter Seesäugetiere,
und vielleicht bergen sie in ihren Tiefen noch manche Mollusken
und Schaltiere von schrecklichem Aussehen. Vormals, in der Urzeit, waren die Landtiere, Vierfüßler, Reptilien und Vögel nach riesenmäßigem Maßstab geformt. Warum sollte nicht das Meer, das
sich unveränderlich gleich bleibt, in seinen unbekannten Tiefen
noch solche Probestücke eines andern Zeitalters aufbewahrt haben? Warum sollte es nicht in seinem Schoß die letzten Arten dieser Riesengattungen bergen?
Doch wenden wir uns aus dem Reiche der Phantasie zur
schrecklichen Wirklichkeit. Die öffentliche Meinung sprach sich
damals in Beziehung auf das Phänomen ohne Widerspruch für die
Existenz eines wunderhaften Riesentieres aus.
Aber wenn die einen nur eine wissenschaftliche Aufgabe darin erkannten, hatten die anderen, mehr positive Geister, zumal
in Amerika und England, im Sinn, das Meer von dem furchtbaren
Ungeheuer zu säubern, um den überseeischen Verkehr zu sichern.
Die industriellen und Handelsblätter behandelten die Frage hauptsächlich von diesem Gesichtspunkt aus; alle den Assekuranzgesellschaften ergebenen Blätter waren darüber einstimmig.
Nachdem die öffentliche Meinung sich ausgesprochen, erklärten sich die Vereinigten Staaten zuerst. Man traf zu New York Vorkehrungen für eine Expedition zur Verfolgung des Narwals. Eine
schnellsegelnde Fregatte, die ›Abraham Lincoln‹, wurde instand gesetzt, unverzüglich in See zu stechen. Dem Kommandanten Farra-
— 17 —
gut wurden die Arsenale geöffnet, und er betrieb eifrigst ihre Ausrüstung.
Nun aber, wie das meistens geschieht, gerade von dem Moment
an, da man entschlossen war, das Ungeheuer zu verfolgen, war es
nicht mehr sichtbar. 2 Monate lang hörte man nichts mehr davon
reden. Es schien, als habe das Einhorn Kunde von einem gegen
es geschmiedeten Komplott bekommen. Man hatte zu viel davon
— 18 —
gesprochen, selbst vermittels des Kabels! Auch scherzte man, der
schlaue Fuchs habe einige Telegramme aufgefangen, und mache
sich nun ihren Inhalt zunutze.
Als daher die Fregatte für eine weite Fahrt gerüstet und mit
fürchterlichen Maschinen versehen war, wußte man nicht, wohin
die Fahrt zu richten sei. Endlich verlautete, ein Dampfer von der
Linie San Francisco in Kalifornien nach Schanghai habe das Tier
3 Wochen zuvor in den nördlichen Gewässern des Pazifiks gesehen.
Es entstand die äußerste Aufregung. Man ließ Kommandant
Farragut kaum 24 Stunden Frist. Seine Vorräte waren eingeschifft,
Kohlen in Überfluß, kein Mann der Bemannung fehlte an seinem
Platz; man brauchte nur zu heizen, auszulaufen! Einen halben Tag
Zögerung hätte man ihm nicht verziehen! Zudem war der Kommandant selbst voll Eifer.
3 Stunden bevor die ›Abraham Lincoln‹ von Brooklyn abfuhr,
erhielt ich folgendes Billett:
Herrn Arronax, Professor am Museum zu Paris,
5th Avenue Hotel, New York.
Mein Herr!
Wenn Sie sich der Expedition der ›Abraham Lincoln‹ anschließen wollen, wird die Regierung der Vereinigten Staaten erfreut
sein, daß Frankreich sich durch Sie an dieser Unternehmung beteiligt. Kommandant Farragut hält eine Kabine zu Ihrer Verfügung
bereit.
Ergebenst der Ihrige
J. B. Hobson,
Marineminister
— 19 —
3. KAPITEL
Wie es meinem Herrn beliebt
3 Sekunden vor Ankunft des Briefs von J. B. Hobson dachte ich
ebensowenig das Einhorn zu verfolgen, als die nordwestliche
Durchfahrt zu versuchen. 3 Sekunden nachdem ich den Brief des
ehrenwerten Marineministers gelesen, begriff ich endlich, daß
mein wahrer Beruf, das einzige Ziel meines Lebens, darin bestehe,
das beunruhigende Ungeheuer zu verjagen und die Welt von ihm
zu befreien.
Doch ich kam von einer mühevollen Reise erschöpft, nach
Ruhe mich sehnend. Ich trachtete nur danach, meine Heimat wiederzusehen, meine Freunde, meine kleine Wohnung im Jardin des
Plantes, meine teueren und kostbaren Sammlungen! Aber nichts
konnte mich zurückhalten. Ich vergaß alles, Ermüdung, Freunde,
Sammlungen, und nahm ohne weiteres Bedenken die Anerbietung
der amerikanischen Regierung an.
»Übrigens«, dachte ich, »führt jeder Weg nach Europa zurück,
und das Einhorn wird wohl so liebenswürdig sein, mich nach den
Küsten Frankreichs hinzuziehen! Dieses respektable Tier wird sich
in den Gewässern Europas – zu meinem persönlichen Vergnügen –
fangen lassen – und ich will dem naturhistorischen Museum nicht
weniger als ein halbes Meter von seiner elfenbeinernen Hellebarde
mitbringen.«
Aber einstweilen mußte ich den Narwal im Norden des Pazifiks
aufsuchen; was ebensoviel war, als für die Rückkehr nach Frankreich den Weg zu den Antipoden einschlagen.
»Conseil!« rief ich ungeduldig.
Conseil war mein Diener. Ein ergebener Bursche, der mich auf
allen meinen Reisen begleitete; ein braver Flame, den ich liebhatte
und der mir’s vergalt; phlegmatisch von Natur, regelmäßig aus
Grundsatz, dienstbeflissen aus Gewohnheit, ließ er sich durch die
überraschenden Fälle im Leben wenig irremachen; mit gewandten
Händen zu jedem Dienst geeignet, war er niemals mit seinem Rat
zudringlich.
Durch seine Berühungen mit den Gelehrten unserer kleinen
— 20 —
Welt des Jardin des Plantes hatte Conseil es dazu gebracht, daß er
etwas wußte. Ich hatte in ihm einen Spezialisten, der, sehr bewandert in der naturhistorischen Klassifikation, mit der Gewandtheit
eines Seiltänzers die ganze Stufenleiter der Verzweigungen, Gruppen, Klassen, Unterabteilungen, Ordnungen, Familien, Gattungen,
Untergattungen, Arten und Varietäten auf und ab lief. Aber hier
war auch die Grenze seines Wissens. Klassifizieren war sein Lebenselement, mehr aber verstand er auch nicht. In der Theorie der
Klassifikation sehr bewandert, wenig in der Praxis, hätte er, glaub’
ich, nicht einen Pottfisch von einem Walfisch unterscheiden können! Und doch, was für ein wackerer, tüchtiger Junge!
Conseil hatte bisher seit 10 Jahren mich überall, wohin mich
die Wissenschaft zog, begleitet. Nie hörte man aus seinem Mund
eine Bemerkung über die lange Dauer oder die Beschwerden einer
Reise. Kein Einwand, wenn er seinen Ranzen zu schnallen hatte
für eine Reise in jedes Land, so fern es auch sein mochte, China
oder Kongo. Er ging hierhin wie dorthin, ohne weiter zu fragen.
Übrigens von trefflicher Gesundheit, die allen Krankheiten trotzte,
starken Muskeln, aber ohne Nerven, nicht einen Schein von Nerven – moralisch, versteht sich.
Dieser Junge war 30 Jahre alt, und seines Herrn Alter verhielt
sich zu diesem wie 20 zu 15.
Nur einen Fehler hatte Conseil. Entsetzlich förmlich, sprach er
mit mir nur in der dritten Person.
»Conseil!« rief ich abermals, während ich mit fieberhafter Eile
meine Vorbereitungen zur Abreise begann.
Sicher konnte ich mich auf diesen ergebenen Jungen verlassen.
In der Regel fragte ich ihn nie, ob es ihm beliebe oder nicht, mich
auf meinen Reisen zu begleiten; aber diesmal handelte sich’s um
eine Expedition, die sich unendlich in die Länge ziehen konnte,
eine gefahrvolle Unternehmung zur Verfolgung eines Tieres, das
fähig war, eine Fregatte wie eine Nußschale zu zertrümmern! Da
galt es zu überlegen, selbst für einen Menschen, den nichts in der
Welt in Verlegenheit brachte! Was würde wohl Conseil dazu sagen?
»Conseil!« rief ich zum dritten Mal.
— 21 —
»Mein Herr ruft mich?« sagte er beim Eintreten.
»Ja, mein Junge. Mach dich fertig, hilf mir, mich fertigmachen.
In 2 Stunden reisen wir ab.«
»Wie es dem Herrn beliebt«, erwiderte Conseil ruhig.
»Kein Augenblick ist zu verlieren. Pack in meinen Koffer all
meine Reiseutensilien, Kleider, Hemden, Strümpfe, so viele du nur
kannst, und beeil dich!«
»Und des Herrn Sammlungen?« bemerkte Conseil.
»Man wird sich später damit befassen.«
»Wie? Die Archiotherium, Hyracotherium, Oreodon, die Cheropotamus und andere Gerippe meines Herrn?«
»Man wird sie im Hotel aufheben.«
»Und der lebendige Babirussa meines Herrn?«
»Man wird ihn in meiner Abwesenheit füttern. Übrigens werde
ich Auftrag geben, unsere Menagerie nach Frankreich zu befördern.«
»Wir kehren also nicht zurück nach Paris?« fragte Conseil.
»Ja ... Gewiß ...« erwiderte ich ausweichend, »aber auf einem
Umweg.«
»Wie es meinem Herrn beliebt.«
»Oh! Es macht wenig aus! Ein nicht ganz direkter Weg, das ist
alles. Wir fahren mit auf der ›Abraham Lincoln‹.«
»Wie es meinem Herrn beliebt«, versetzte Conseil ruhig.
»Du weißt, lieber Freund, es handelt sich um das Ungeheuer ...
den famosen Narwal ... Wir werden die Meere davon befreien ...!
Der Verfasser eines Werks in zwei Quartbänden über die »Geheimnisse der großen unterseeischen Tiefen« kann nicht umhin,
mit dem Kommandanten Farragut in See zu stechen. Ein ehrenvoller, aber auch gefahrvoller Auftrag! Man weiß nicht, wohin man
sich wenden soll! Diese Tiere können sehr schlimme Laune haben!
Aber trotzdem gehen wir! Unser Kommandant hat den Kopf auf
der rechten Stelle ...
»Was mein Herr tut, das tue ich auch«, erwiderte Conseil.
»Und merk dir wohl! – denn ich will dir’s nicht verhehlen – ’s ist
eine Reise, von der nicht jeder wieder heimkommt!«
»Wie es meinem Herrn gefällt.«
— 22 —
Nach einer Viertelstunde waren unsere Koffer fertig. Conseil
hatte es in einem Griff gemacht, und ich war sicher, daß nichts
mangelte, denn der Junge verstand die Hemden und Kleider
ebenso gut zu ordnen wie die Vögel und Säugetiere. Wir begaben
uns ins Erdgeschoß, wo ich in dem geräumigen, stets umlagerten
Comptoir meine Rechnung berichtigte, den Auftrag erteilte, meine
Kisten mit ausgebalgten Tieren und getrockneten Pflanzen nach
— 23 —
Paris zu schicken, und dem Babirussa einen hinlänglichen Kredit
eröffnete. Darauf stieg ich in Conseils Begleitung in einen Wagen,
der uns um 20 Franc durch Broadway, Fourth Avenue und Katsin
Street zum 34. Pier * fuhr, wo ein Fahrzeug uns samt Wagen und
Pferden aufnahm und nach Brooklyn brachte, dem großen Quartier von New York am linken Ufer des östlichen Flusses, wo wir
in einigen Minuten an dem Kai anlangten, bei dem die ›Abraham
Lincoln‹ aus seinen zwei Rauchfängen schwarze Säulen emporwirbelte. Unser Gepäck wurde unverzüglich aufs Verdeck der Fregatte
gebracht, ich eilte an Bord und fragte nach Kommandant Farragut.
Ein Matrose führte mich aufs Vorderverdeck zu einem Offizier von
stattlichem Aussehen, der mir die Hand reichte.
»Herr Pierre Arronax?« sagte er.
»Der bin ich. Kommandant Farragut?«
»In eigener Person. Seien Sie willkommen, Herr Professor. Ihre
Kabine wartet schon auf Sie.«
Ich grüßte, ließ den Kommandanten bei seiner Beschäftigung
und folgte einem Begleiter in die für mich bestimmte Kabine.
Die ›Abraham Lincoln‹ war für ihre neue Bestimmung trefflich ausgewählt und eingerichtet. Es war eine schnellsegelnde Fregatte mit einem Heizungsapparat, der die Dampfkraft bis auf 7 Atmosphären zu steigern gestattete. Dadurch bekam er eine mittlere
Geschwindigkeit von 18,3 Meilen die Stunde; doch war diese beträchtliche Schnelligkeit nicht ausreichend für einen Kampf mit
dem Riesentier.
Die inneren Einrichtungen der Fregatte entsprachen ihren nautischen Vorzügen. Ich war mit meiner Kabine sehr zufrieden; sie
lag am hinteren Schiffsteil und stieß an das Offizierszimmer. »Wir
sind hier wohl aufgehoben«, sagte ich zu Conseil.
»So gut, mit Erlaubnis meines Herrn, als der Einsiedler Bernhard in der Muschelschale.«
Ich überließ es Conseil, unsere Koffer gehörig zu ordnen, und
begab mich wieder aufs Verdeck, um den Vorbereitungen zur Abfahrt zuzusehen.
*
Ein besonderer Kai für jedes Fahrzeug.
— 24 —
In diesem Augenblick ließ Kommandant Farragut die letzten
Taue lösen, welche die ›Abraham Lincoln‹ an den Kai fesselten. Also
eine Viertelstunde Verspätung, und die Fregatte fuhr ohne mich ab,
so daß ich diese außerordentliche, übernatürliche, unwahrscheinliche Expedition verfehlte, deren wahrheitsgetreue Erzählung doch
vielleicht auf manche Ungläubige stoßen wird.
Aber Kommandant Farragut wollte nicht einen Tag verlieren,
nicht eine Stunde, um in das Meer zu kommen, wo das Tier verspürt worden war. Er ließ seinen Ingenieur kommen.
»Haben wir gehörig Dampf ?« fragte er ihn.
»Ja, mein Herr«, erwiderte der Ingenieur.
»Go head«, rief Kommandant Farragut.
Auf diesen Befehl, der vermittels eines Apparats mit verdichteter Luft zur Maschine befördert wurde, setzten die Maschinenleute
das Rad in Bewegung. Der Dampf zischte, indem er in die Behälter
drang. Die langen horizontalen Stempel dröhnten und trieben die
Stangen der Welle.
Mit zunehmender Schnelligkeit wurden die Wellen von der
Schraube geschlagen, und die ›Abraham Lincoln‹ bewegte sich
majestätisch inmitten von hundert Fähren und Tendern * voll Zuschauer, die ihr das Geleit gaben.
Die Kais zu Brooklyn und der ganze Teil von New York, der an
das östliche Ufer stößt, waren mit Neugierigen bedeckt. Drei Hurras nacheinander hörte man aus der Brust von einer halben Million erschallen. Tausende von Taschentüchern über der dichten
Volksmasse geschwenkt, begrüßten die ›Abraham Lincoln‹, bis sie
in die Gewässer des Hudson, an der Spitze der langen Halbinsel,
gelangte, die New York bildet.
Darauf fuhr die Fregatte in der Richtung von New Jersey an
dem wunderschönen rechten, ganz mit Landhäusern bedeckten
Ufer des Flusses zwischen den Forts durch, die sie mit ihren größten Kanonen begrüßten.
Die ›Abraham Lincoln‹ erwiderte den Gruß durch dreimaliges
Aufziehen der amerikanischen Flagge mit ihren 39 an der Spitze
*
Kleine Dampfboote zur Bedienung der großen Steamer.
— 25 —
des Hintermastes glänzenden Sternen; hierauf änderte er seinen
Lauf, um das mit Baken versehene Fahrwasser in der inneren durch
die Spitze Sandy Hook gebildeten Bai zu gewinnen, und fuhr längs
dieser sandigen Erdzunge, wo Tausende von Zuschauern ihn nochmals begrüßten.
Das Geleit der Boote und Tender verließ die Fregatte erst auf
— 26 —
der Höhe des Leuchtboots, dessen zwei Feuer die Einfahrt in das
Seegatt von New York bezeichnen.
Schlag 3 stieg der Lotse in sein Boot und fuhr zu der kleinen
Goélette, die ihn unterm Wind erwartete. Die Feuer wurden geschürt, die Schraube schlug rascher die Wellen; die Fregatte strich
längs der gelben niedrigen Küste von Long Island, und um 8 Uhr
abends, nachdem sie die Feuer von Fire Island nordwestlich aus
dem Gesicht verloren, lief sie mit voller Dampfkraft in die dunklen
Wasser des Atlantiks.
4. KAPITEL
Ned Land
Kommandant Farragut war ein tüchtiger Seemann, seiner Fregatte
würdig. Er fühlte sich eins mit seinem Schiff, war seine Seele. Über
das Seeungeheuer hegte er nicht den mindesten Zweifel, und er gestattete gar nicht, daß an Bord seines Schiffs über die Existenz des
Tieres disputiert wurde. Er glaubte daran wie manche gute Frauen
an Leviathan – nicht aus Vernunftgründen, sondern als an einen
Glaubensartikel. Das Ungeheuer existierte, und er hatte geschworen, die Meere von ihm zu befreien. Entweder Kommandant Farragut würde den Narwal töten oder der Narwal den Kommandanten.
Ein Drittes gab’s nicht.
Die Offiziere an Bord teilten die Ansicht ihres Chefs. Man
mußte sie reden hören, disputieren, diskutieren, die verschiedenen
möglichen Fälle bei einem Zusammentreffen in Berechnung ziehen, das weite Meer beobachten. Mancher, der sonst einen solchen
Dienst verwünscht hätte, übernahm freiwillig eine Wache auf dem
Mastgebälk. Solange die Sonne am Himmel stand, waren die Masten voll Matrosen, denen auf dem Verdeck die Fußsohlen brannten
und die sich nicht an ihrem Platz halten konnten! Und doch befand sich die ›Abraham Lincoln‹ noch nicht in den verdächtigen
Gewässern des Pazifiks.
Die Mannschaft war eifrigst gespannt, mit dem Einhorn zusammenzutreffen, die Harpune zu werfen, es an Bord zu ziehen und
— 27 —
dann zu zerhauen. Sie beobachtete mit sorglichster Achtsamkeit
die Meeresfläche. Übrigens sprach Kommandant Farragut von einer Summe von 2.000 Dollar, die er aussetzte – Schiffsjunge, Matrose oder Offizier – der das Tier signalisierte. Da kann man sich
denken, wie an Bord der ›Abraham Lincoln‹ sich die Augen abmühten!
Ich meinesteils blieb hinter den anderen nicht zurück und überließ niemand meinen Teil an der täglichen Beobachtung. Die Fregatte hätte hundertfach Grund gehabt, den Namen ›Argus‹ zu führen. Nur der einzige Conseil stand mit seiner Gleichgültigkeit im
Widerspruch mit uns in Hinsicht der Frage, die uns in Bewegung
setzte, und stimmte nicht in den allgemeinen Enthusiasmus ein.
Ich habe gesagt, Kommandant Farragut habe sein Schiff wohl
mit Werkzeugen und Vorkehrungen versehen, um das Riesentier
zu fischen. Wir waren im Besitz aller bekannten Maschinen, von
der mit der Hand geworfenen Harpune bis auf die explodierenden
Kugeln der Geschütze.
Auf dem Vordersteven war eine vervollkommnete Kanone, Hinterlader, von sehr starker Mündung und sehr enger Seele, deren
Modell auf der nächsten Weltausstellung figurieren sollte. Dieses
vortreffliche Instrument amerikanischen Ursprungs schleuderte
leicht ein konisches Projektil von 4 Kilogramm auf eine durchschnittliche Entfernung von 16 Kilometer.
Es fehlte also der ›Abraham Lincoln‹ nicht an Mordmitteln.
Aber sie besaß noch mehr, den Harpunierkönig Ned Land.
Ned Land war ein Kanadier von seltenem Handgeschick, der
seinesgleichen in dem gefährlichen Handwerk nicht hatte. Er besaß
Gewandtheit und Kaltblütigkeit, Kühnheit und List in besonders
hohem Grad, und ein Walfisch mußte schon recht tückisch, ein
Pottfisch besonders listig sein, um seiner Harpune zu entrinnen.
Ned Land war etwa 40 Jahre alt, hochgewachsen – über 6 englische Fuß –, kräftig gebaut, von ernster Miene, wenig mitteilsam,
manchmal heftig und sehr zornig, wenn man ihn reizte. Seine Person erregte Aufmerksamkeit, zumal die Macht seines Blicks, der
seine Züge besonders belebte.
Kommandant Farragut hatte wohl sehr weise getan, diesen
— 28 —
Mann für sein Schiff zu gewinnen. Er allein wog mit Auge und
Arm die ganze Mannschaft auf. Ich könnte ihn am besten mit einem starken Teleskop vergleichen, das zugleich als Kanone stets
schußfertig wäre.
Kanadier sind Franzosen, und so wenig mitteilsam Ned Land
war, hatte er doch, erkenne ich an, eine gewisse Anhänglichkeit an
mich. Ohne Zweifel zog ihn meine Nationalität an. Ich gab ihm
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eine Gelegenheit sich zu unterreden, und er mir eine solche, die
alte Sprache des Rabelais zu hören, die in einigen Gegenden Kanadas noch in Gebrauch ist. Die Familie des Harpuniers stammte aus
Quebec und bildete schon zu der Zeit, als diese Stadt den Franzosen gehörte, einen kühnen Fischerstamm.
Allmählich bekam Ned Lust zu plaudern, und ich hörte ihn gern
von seinen Abenteuern in den Polarmeeren erzählen. Er sprach mit
viel natürlicher Poesie von seinem Fischfang und seinen Kämpfen dabei. Sein Vortrag hatte echt epische Form, und ich glaubte
manchmal einen kanadischen Homer zu hören, der die Iliade der
Hyperboreerlande sang.
Ich schildere eben diesen kühnen Gesellen so, wie ich ihn gegenwärtig kenne. Wir sind alte Freunde geworden, geeinigt durch
die unerschütterliche Sympathie, die in den entsetzlichsten Lebenslagen entsteht und aneinander fesselt! Wackerer Ned! Ich möchte
noch hundert Jahre leben, um mich noch recht lange deiner zu erinnern!
Und jetzt, was war denn Ned Lands Meinung in der Frage des
Seeungeheuers? Ich muß gestehen, daß er an das Einhorn wenig
glaubte und daß er allein an Bord die allgemeine Ansicht nicht
teilte. Er mied selbst von dem Gegenstand zu sprechen, so daß ich
ihm einmal glaubte darin zu Leibe gehen zu müssen.
An einem prachtvollen Abend des 30. Juli, d.h. 3 Wochen nach
unserer Abfahrt, befand sich die Fregatte auf der Höhe des Kaps
Blanco, 30 Meilen unterm Wind an der patagonischen Küste. Wir
waren über den Wendekreis des Steinbocks hinaus, und die Magellanische Enge war keine 700 Meilen mehr südlich. Vor Ablauf
von 8 Tagen konnte die ›Abraham Lincoln‹ die Wogen des Pazifiks
durchsegeln.
Wir saßen, Ned Land und ich, auf dem Hinterverdeck und plauderten über dies und jenes, indem wir auf das geheimnisvolle Meer
hinschauten, dessen Tiefen bis jetzt den Blicken der Menschen unzugänglich gewesen sind. Ich führte ganz natürlich das Gespräch
auf das Rieseneinhorn und prüfte die verschiedenen Aussichten
unserer Unternehmung auf Gelingen oder Mißlingen. Hernach,
— 30 —
als Ned mich reden ließ, ohne darauf zu antworten, setzte ich ihm
direkter zu.
»Wie ist es, Ned«, fragte ich, »wie ist nur möglich, daß Sie von
der Existenz des Tieres, das wir verfolgen, nicht überzeugt sind?
Haben Sie denn besondere Gründe, sich so ungläubig zu zeigen?«
Der Harpunier sah mich erst eine Weile an, bevor er mir antwortete, schlug sich dann mit einer ihm eigentümlichen Handbewegung auf seine große Stirn, schloß die Augen, als wolle er sich
sammeln, und sagte endlich:
»Vielleicht wohl, Herr Arronax.«
»Doch, Ned, Sie, ein Walfischfänger von Profession, der mit den
großen Seesäugetieren vertraut ist, dessen Einbildungskraft leicht
die Hypothese von enormen Seetieren gelten lassen kann, Sie sollten der Letzte sein, der in solche Dinge Zweifel setzt!«
»Darin gerade irren Sie, Herr Professor«, erwiderte Ned. »Mag
die Menge an außerordentliche Kometen glauben, die den Raum
durchlaufen, oder an das Dasein urweltlicher Ungeheuer, die im
Innern des Erdballs hausen, das geht noch an, aber weder der
Astronom noch der Geologe lassen solche Hirngespinste gelten.
Ebenso der Walfischfänger. Ich habe manche Seetiere verfolgt, viele
harpuniert, eine Menge erlegt, aber so stark und wohlbewaffnet sie
auch waren, weder mit den Schwänzen noch mit den Zähnen hätten sie den Eisenplatten eines Dampfers etwas anhaben können.«
»Doch, Ned, führt man Schiffe an, die der Narwal mit seinem
Zahn durch und durch gebohrt hat.«
»Hölzerne, wohl möglich«, erwiderte der Kanadier; und dazu
hab’ ich solche nie gesehen. Also, bis mir der Beweis vom Gegenteil
erbracht wird, leugne ich, daß Walfische, Pottfische oder Einhörner
solch eine Wirkung hervorbringen können.«
»Hören Sie mich an, Ned ...«
»Nein, Herr Professor, nein. Alles sonst, was Sie wollen, nur dies
nicht. Ein Riesenpolyp vielleicht ...?«
»Noch weniger, Ned. Der Polyp ist nur eine Molluske, von wenig festem Fleisch, wie schon dieser Name andeutet. Wäre ein Polyp – der nicht zu den Wirbeltieren gehört – auch 500 Fuß lang, so
ist er doch durchaus ungefährlich für solche Schiffe wie die ›Sco-
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tia‹ oder ›Abraham Lincoln‹. Es müssen also die Heldentaten der
Kraken und anderen Ungeheuer der Art ins Reich der Fabeln verwiesen werden.«
»Also, Herr Naturforscher«, fuhr Ned Land mit etwas schelmischem Ton fort, »Sie beharren bei der Annahme, daß ein enormes
Seesäugetier vorhanden sei ...?«
»Ja, Ned, ich wiederhole es mit einer Überzeugung, die sich auf
die Logik der Tatsachen stützt. Ich glaube an die Existenz eines
stark organisierten Seesäugetiers aus der Klasse der Wirbeltiere
wie der Walfisch, Pottfisch und Delphin, das mit einer hörnernen
Waffe von äußerster Stärke versehen ist.«
»Hm!« sagte der Harpunier, und schüttelte den Kopf als ein
Mann, der sich nicht überzeugen lassen will.
»Bemerken Sie, mein wackerer Kanadier«, fuhr ich fort, »daß,
wenn ein solches Tier existiert, wenn es die Tiefen des Ozeans bewohnt, wenn es in den Wasserschichten verkehrt, die einige Meilen
unter der Oberfläche sind, es notwendig einen Organismus haben
muß, dessen Festigkeit über alle Vergleichung geht.«
»Und weshalb dieser starke Organismus?« fragte Ned.
»Weil eine unberechenbare Kraft nötig ist, um sich in den tiefen
Schichten aufzuhalten und dem Druck dort zu widerstehen.«
»Wirklich?« sagte Ned, und sah mich blinzelnd an.
»Wirklich, und einige Zahlen werden es leicht beweisen.«
»Oh! Zahlen!« versetzte Ned. »Mit Zahlen läßt sich alles machen!«
»In Geschäften, Ned, aber nicht in der Mathematik. Hören Sie
nur. Nehmen wir an, daß der Druck einer Atmosphäre dem Druck
einer Wassersäule von 32 Fuß Höhe entspricht. In Wirklichkeit
würde die Wassersäule nicht so hoch sein, weil das Meerwasser
dichter ist als das süße. Nun, Ned, wenn Sie untertauchen, muß
Ihr Körper, sovielmal er 32 Fuß Wasser über sich hat, ebensovielmal einen Druck gleich dem der Atmosphäre aushalten, nämlich
ein Kilogramm auf jeden Quadratzentimeter seiner Oberfläche.
Daraus folgt, daß bei 320 Fuß Tiefe dieser Druck 10 Atmosphären
entspricht, und 100 Atmosphären bei 3.200 Fuß Tiefe, 1.000 Atmosphären bei 32.000 Fuß. Dies will ebensoviel heißen, als daß, wenn
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Sie bis in eine solche Tiefe gelangen können, jeder Quadratzentimeter der Oberfläche Ihres Körpers einen Druck von 1.000 Kilogramm zu erleiden haben würde. Nun, wissen Sie, wackerer Ned,
wieviel Quadratzentimeter Oberfläche Ihr Körper hat?«
»Ich habe keine Ahnung davon, Herr Arronax.«
»Ungefähr 17.000.«
»So viele?«
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»Und da in Wirklichkeit der atmosphärische Druck etwas mehr
als ein Kilogramm auf den Quadratzentimeter beträgt, so haben
Ihre 17.000 Quadratzentimeter in diesem Augenblick einen Druck
von 17.568 Kilogramm auszuhalten.«
»Ohne daß ich’s merke?«
»Ohne es wahrzunehmen. Und daß Sie nicht von einem solchen
Druck zerquetscht werden, kommt daher, daß die Luft im Innern
Ihres Körpers einen gleichen Druck ausübt. Es entsteht daraus ein
vollständiges Gleichgewicht des inneren und äußeren Drucks, die
sich einander aufheben, so daß Sie es leicht aushalten. Im Wasser
aber ist’s anders.«
»Ja, ich begreife«, erwiderte Ned, der aufmerksamer geworden
war, »weil das Wasser mich umgibt, nicht ebenso mich durchdringt.«
»Richtig, Ned. Also bei 32 Fuß unter der Meeresoberfläche hätten Sie einen Druck von 17.568 Kilogramm auszuhalten; bei 320
Fuß diesen Druck 10fach, nämlich 175.680 Kilogramm; bei 3.200
Fuß 100fach, nämlich 1.756.800 Kilogramm; bei 32.000 Fuß endlich den 1.000fachen Druck, nämlich von 17.568.000 Kilogramm;
d.h., Sie würden platt gedrückt wie unter den Platten einer hydraulischen Presse!«
»Teufel!« sagte Ned.
»Nun denn, mein werter Harpunier, wenn Wirbeltiere, die einige hundert Meter lang und verhältnismäßig dick sind, sich in
solchen Tiefen aufhalten können und ihre Oberfläche Millionen
Zentimeter beträgt, so ist der Druck, den sie aushalten können, auf
Milliarden Kilogramm anzuschlagen. Nun rechnen Sie, wie groß
muß die Widerstandskraft ihres Knochenbaues und die Stärke ihres Organismus sein, um solchem Druck Widerstand zu leisten!«
»Sie müssen wohl«, versetzte Ned Land, »mit 8 Zoll dickem Eisenblech beschlagen sein wie die Panzerfregatten.«
»So ist’s, Ned, und nun denken Sie, was eine solche mit der
Schnelligkeit eines Eilzugs gegen einen Schiffsrumpf anstürzende
Masse für Zerstörung anrichten kann.«
»Ja ... wirklich ... vielleicht«, erwiderte der Kanadier, der durch
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diese Ziffern zwar wankend geworden, doch sich noch nicht ergeben wollte.
»Nun, hab’ ich Sie überzeugt?«
»Sie haben, Herr Naturforscher, mich davon überzeugt, daß,
wenn auf dem Grund des Meeres solche Tiere existieren, sie notwendig so stark sein müssen, wie Sie sagten.«
»Aber wenn sie nicht existieren, starrköpfiger Harpunier, wie
erklären Sie dann den Unfall, der die ›Scotia‹ traf ?«
»Vielleicht ...«, sagte Ned stotternd.
»Nun, nun!«
»Weil ... es nicht wahr ist!« erwiderte der Kanadier, indem er,
ohne es zu wissen, die Antwort wiederholte, die einmal der berühmte Arago gab.
Aber diese Antwort bewies doch nur die Hartnäckigkeit des
Harpuniers. Damals drängte ich ihn nicht weiter. Der Unfall der
›Scotia‹ war nicht zu leugnen. Das Loch war so stark, daß man es
stopfen mußte, und ich glaube nicht, daß das Vorhandensein eines
Loches entschiedener bewiesen werden kann. Dieses Loch aber ist
nicht von selbst entstanden, und da es nicht von Felsen oder Maschinen unterm Meer hervorgebracht worden ist, so ist es notwendig dem durchbohrenden Werkzeug eines Tieres zuzuschreiben.
Meiner Ansicht nach, und aus allen vorhin angeführten Gründen, gehörte nun dieses Tier der Abteilung der Wirbeltiere an, zur
Klasse der Säugetiere, Gruppe der Fischförmigen, und endlich zur
Ordnung der Walfischartigen. Zu welcher Familie es zu rechnen,
Walfisch, Pottfisch oder Delphin, zu welcher Gattung und Art,
wäre eine später zu beleuchtende Frage. Um diese zu lösen, müßte
man das unbekannte Ungeheuer erst zerlegen; um es zu zerlegen,
es fangen; um es zu fangen, die Harpune werfen; zum Harpunieren müßte man es sehen – was der Mannschaft zufiele; dafür aber
müßte man ihm begegnen, was eine Sache des Zufalles ist.
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5. KAPITEL
Auf gut Glück!
Die Fahrt der ›Abraham Lincoln‹ wurde eine Zeitlang von keinem
Zwischenfall betroffen. Doch konnte man bei einer Gelegenheit,
welche die merkwürdige Geschicklichkeit Ned Lands kundgab, erkennen, welches Vertrauen man auf ihn setzen konnte.
Auf der hohen See bei den Falklands-Inseln begegnete die
Fregatte am 30. Juni amerikanischen Walfischfängern, die keine
Kunde vom Narwal geben konnten. Als aber einer von ihnen, Kapitän Monroe, erfuhr, daß Ned Land sich an Bord der ›Abraham
Lincoln‹ befand, so erbat er sich dessen Beistand, um auf einen
Walfisch, der in Sicht war, Jagd zu machen. Kommandant Farragut,
dem es erwünscht war, Ned Land sein Werk verrichten zu sehen,
gab ihm die Erlaubnis, sich an Bord des Monroe zu begeben. Und
unser Kanadier war so glücklich, daß er anstatt eines Walfischs mit
einem Doppelwurf deren zwei harpunierte, indem er den einen ins
Herz traf, des andern nach einigen Minuten Meister wurde!
Unstreitig, wenn das Ungeheuer jemals mit Ned Lands Harpune
zu schaffen bekommt, gehe ich keine Wette zu seinen Gunsten ein.
Die Fregatte fuhr längs der Südostküste von Amerika mit erstaunlicher Schnelligkeit. Am 3. Juli waren wir am Eingang der
Magellanischen Enge, auf der Höhe des Kaps de las Virgines. Aber
Kommandant Farragut wollte diese gewundene Straße nicht einschlagen und beschloß, um das Kap Horn zu fahren. Und in der Tat
war es auch nicht wahrscheinlich, daß man in dieser Enge auf den
Narwal stoßen werde.
Am 6. Juli, um 3 Uhr abends, fuhr die ›Abraham Lincoln‹, 15
Meilen südlicher, um das Inselchen, den verlorenen Felsen am äußersten Ende des amerikanischen Kontinents, dem holländische
Matrosen den Namen ihrer Geburtsstadt Horn gegeben hatten.
Nun fuhr man in nordwestlicher Richtung, und die Fregatte lief
endlich in den Pazifik ein. –
»Jetzt Achtung! Augen auf !« riefen wiederholt die Matrosen der
›Abraham Lincoln‹.
Und sie öffneten sie über die Maßen weit. Augen und Fernrohre,
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zwar durch die Perspektive der 2.000 Dollar etwas geblendet, blieben nicht einen Augenblick untätig. Tag und Nacht beobachtete
man die Wasserfläche, und die Nachtsichtigen hatten mehr Aussicht das Spiel zu gewinnen.
Ich, auf den das Geld keine Anziehungskraft übte, war darum
nicht minder achtsam an Bord. Ich vergönnte mir zum Essen nur
einige Minuten, zum Schlafen nur einige Stunden, verließ, unbekümmert um Regen oder Sonnenschein, keinen Augenblick das
Verdeck. Bald auf die Schanzverkleidung des Vorderkastells, bald
auf das Gebälk des hinteren gelehnt, folgte ich mit gierigen Blicken
dem schaumigen Kielwasser, so weit das Gesicht reichte. Wie oft
teilte ich die Aufregung der Offiziere, der Mannschaft, wann ein
Walfisch launisch mit schwärzlichem Rücken aus dem Gewässer
hervorragte. Dann füllte sich im Augenblick das Verdeck mit Matrosen und Offizieren. Jeder beobachtete mit beklommener Brust
und trübem Blick das schwimmende Tier. Ich schaute und schaute,
daß ich meine Netzhaut abnützte, blind zu werden drohte, während Conseil, stets phlegmatisch, mir mit ruhigem Ton wiederholt
zusprach:
»Wenn mein Herr die Güte haben wollte, die Augen weniger
aufzureißen, so würde man wohl mehr sehen!«
Aber, vergebliche Aufregung! Die ›Abraham Lincoln‹ änderte
ihre Richtung, das signalisierte Tier anzugreifen, Walfisch oder
Pottfisch, es verschwand jedoch bald von einem Hagel von Flüchen begleitet!
Doch das Wetter war fortwährend günstig. Die Fahrt wurde unter besseren Bedingungen weiter verfolgt. Es war damals die üble
Jahreszeit des Südens, denn der Juli dieser Zone entspricht unserem Januar in Europa; aber das Meer hielt sich ruhig und gestattete
in weitem Umfang die Beobachtung.
Ned Land zeigte stets hartnäckige Ungläubigkeit; er stellte sich
sogar, als beobachte er außer der Zeit, da er auf dem Verdeck sein
mußte, gar nicht die Wasserfläche – wenigstens wenn nicht ein
Walfisch in Sicht war. Und doch hätte seine merkwürdige Sehkraft große Dienste leisten können. Aber der starrköpfige Kanadier
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brachte von 12 Stunden 8 mit Lesen oder Schlafen in seiner Kabine
zu. Ich machte ihm oft Vorwürfe über seine Gleichgültigkeit.
»Pah!« erwiderte er, »’s ist nichts dran, Herr Arronax, und wäre
es so ein Tier, was haben wir für eine Aussicht, es zu Gesicht zu
bekommen? Fahren wir nicht so aufs Geratewohl? Man hat das
unauffindbare Tier, sagt man, auf offener See im Pazifik wiedergesehen, ich glaub’s gern; aber es sind seit jener Begegnung schon
2 Monate verflossen, und will man das Temperament Ihres Narwal beachten, so hält er sich nicht gern lange in denselben Gegenden auf ! Er ist fähig, mit erstaunlicher Leichtigkeit seine Stelle zu
wechseln. Nun tut, wie Sie, Herr Professor, besser als ich wissen, die
Natur nichts Verkehrtes, und sie würde ein seiner Natur nach langsames Tier nicht mit der Fähigkeit rascher Bewegung ausstatten,
wenn es sie nicht benötigen würde. Folglich, existiert das Tier, so
ist es bereits weit weg!«
Hierauf wußte ich nichts zu erwidern. Offenbar tappten wir wie
Blinde. Aber wie sollte man sonst verfahren? Darum hatten wir
auch sehr beschränkte Aussichten. Doch zweifelte niemand am Erfolg, und es war kein Matrose an Bord, der nicht gegen den Narwal
und sein baldiges Erscheinen eine Wette eingegangen wäre.
Am 20. Juli durchschnitten wir den Wendekreis des Steinbocks
unterm 105 ° der Länge, und am 27. desselben Monats den Äquator unterm 110. Meridian. Hierauf nahm die Fregatte eine mehr
entschieden westliche Richtung an und drang in die mittleren Gewässer des Pazifiks ein. Kommandant Farragut urteilte richtig, es
sei besser, die tieferen Gewässer aufzusuchen, und sich von den
Landstrecken oder Inseln fern zu halten, die das Tier offenbar zu
vermeiden gesucht hatte, »ohne Zweifel, weil es dort nicht Wasser
genug hatte«, sagte der Gepäckmeister. Die Fregatte fuhr daher in
weiter Entfernung von den Pomotu-, Marquesas- und SandwichInseln, durchschnitt unterm 132 ° Länge den Wendekreis des Krebses und wendete sich dann nach den Chinesischen Meeren.
Endlich befanden wir uns auf dem Schauplatz, wo das Ungeheuer zuletzt sich aufgehalten hatte! Da klopften alle Herzen erschreckt; die ganze Mannschaft geriet in eine nervöse Aufregung,
die sich nicht beschreiben läßt. Man vergaß Essen und Schlafen.
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Zwanzigmal täglich war eine irrige Schätzung, eine optische Täuschung einiger Matrosen imstande, unerträglichen Schrecken zu
veranlassen, und diese zwanzigfach wiederholten Gemütsbewegungen hielten uns in einem Zustand so arger Spannung, daß eine
Reaktion nicht ausbleiben konnte.
Und in der Tat ließ sie nicht auf sich warten. 3 Monate lang,
3 Monate, wo jeder Tag ein Jahrhundert dauerte! Die ›Abraham
Lincoln‹ durchfuhr alle nördlichen Meeresstriche des Pazifiks, lief
die signalisierten Walfische an, kreuzte in raschen Wendungen hin
und her, hielt plötzlich an, steigerte die Spannung des Dampfes und
ließ wieder nach, Schlag auf Schlag mit Gefahr, die Maschine aus
gleichem Gang zu bringen. So ließ sie keinen Punkt von Japan bis
zur amerikanischen Küste undurchsucht. Und es ergab sich nichts,
nichts als das unermeßliche, öde Meer! Nichts was einem riesenhaften Narwal, einem unterseeischen Inselchen, einer schweifenden Klippe, noch sonst etwas Übernatürlichem geglichen hätte.
Da trat also ein Rückschlag ein. Die Entmutigung bahnte zuerst
der Ungläubigkeit den Weg. Es entstand an Bord eine Stimmung,
die aus 3/10 Scham und 7/10 Zorn bestand. Man war doch »recht
einfältig, sich für eine Chimäre gewinnen zu lassen«. Die Berge von
Gründen, die seit einem Jahr sich aufgetürmt hatten, stürzten auf
einmal zusammen, und jeder dachte nur in den Stunden der Mahlzeit oder des Schlafs die so töricht geopferte Zeit sich wieder beizubringen.
Mit der dem menschlichen Geist so natürlichen Beweglichkeit
warf man sich von einem Extrem ins andere. Die wärmsten Verfechter der Unternehmung waren nun am ärgsten zum Schmähen
bereit. Die Reaktion bewegte sich vom unteren Schiffsraum bis
zum Salon der Offiziere, und sicher, wäre nicht Kommandant Farragut so hartnäckig gewesen, so hätte sich die Fregatte wieder entschieden nach Süden gewendet.
Doch konnte dies erfolglose Suchen nicht lange andauern. Die
›Abraham Lincoln‹ hatte, nachdem sie alles zur Erreichung ihres
Zwecks getan, sich nichts vorzuwerfen. Nie hat die Mannschaft
eines Schiffs der amerikanischen Marine mehr Geduld und Eifer
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gezeigt; der Mißerfolg konnte ihr nicht zugeschrieben werden; es
blieb nichts übrig, als zurückzukehren.
In diesem Sinne machte man dem Kommandanten Vorstellungen. Er hielt wacker stand. Die Matrosen verhehlten nicht ihre Unzufriedenheit, und der Dienst litt dadurch. Ich will nicht sagen, daß
an Bord ein Aufruhr entstand, aber Kommandant Farragut fand
doch, nachdem er geraume Zeit widerstanden, sich veranlaßt, wie
einst Kolumbus, 3 Tage Geduld zu begehren. Wenn im Verlauf von
3 Tagen das Ungeheuer sich nicht zeigte, solle die ›Abraham Lincoln‹ die Heimkehr nach den europäischen Meeren antreten.
Dies Versprechen wurde am 2. November gegeben. Es hatte zunächst zur Folge, daß der Mut der Mannschaft sich wieder hob.
Der Ozean wurde wieder achtsam beobachtet; die Fernrohre kamen wieder in Tätigkeit. Es war eine letzte Herausforderung an
den Riesennarwal, der vernünftiger Weise nicht umhinkonnte, der
Forderung zu entsprechen.
Während der 2 Tage hielt sich die ›Abraham Lincoln‹ bei schwachem Dampf. Man gab sich alle Mühe, die Aufmerksamkeit des
Tieres, falls es sich in dieser Gegend befände, zu wecken oder seine
Gleichgültigkeit zu spornen. Es wurden ungeheure Stücke Speck
am Schleppseil ausgeworfen – zu großer Befriedigung der Haifische. Die Boote fuhren in allen Richtungen um die ›Abraham Lincoln‹, während sie aufbraßte, und ließen keinen Punkt undurchsucht. Aber der Abend des 4. November kam heran, ohne daß das
unterirdische Geheimnis sich enthüllte.
Am folgenden Tag, 5. November, lief der strenge Termin ab.
Nach diesem Termin mußte Kommandant Farragut, seinem Versprechen gemäß, die Fahrt nach Südosten richten und entschieden
die nördlichen Gegenden des Pazifiks verlassen.
Die Fregatte befand sich damals unterm 31 ° 15 ʹ nördl. Breite
und 136 ° 42 ʹ östl. Länge. Die Landschaften Japans waren kaum 200
Meilen unterm Wind entfernt. Die Nacht nahte heran, es schlug
schon 8 Uhr. Die Mondscheibe, damals im ersten Viertel, war von
Gewölk verschleiert. Das Meer unterm Kiel schlug ruhige Wellen.
In dem Augenblick befand ich mich vorn beim Steuerbord, aufs
Geländer gelehnt. Conseil, der in meiner Nähe stand, schaute vor
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sich hin. Die Mannschaft, auf den Tauen hockend, forschte am Horizont, der allmählich enger und düsterer wurde. Die Offiziere, mit
ihren Nachtlorgnetten bewaffnet, beobachteten die zunehmende
Dunkelheit.
Bei Conseil konnte ich wahrnehmen, daß dieser brave Bursche
sehr wenig dem allgemeinen Einfluß unterworfen war. Wenigstens
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sah ich’s so an! Vielleicht wirkte die Neugier einigermaßen auch
auf seine Nerven.
»Auf, Conseil«, sagte ich, »nun ist noch zum letztenmal Gelegenheit, 2.000 Dollar einzustreichen.«
»Erlauben mir, mein Herr, zu bemerken«, versetzte Conseil,
»daß ich nie auf diesen Preis mir Rechnung gemacht habe; und die
Regierung der Union konnte 100.000 Dollar versprechen, sie wäre
um nichts ärmer geworden.«
»Du hast recht, Conseil. Nach allem ist’s eine verrückte Sache, in
die wir uns zu leichtsinnig hineingestürzt haben. Wieviel Zeit verloren, wie unnütz diese Aufregungen! Jetzt sind’s schon 6 Monate,
daß wir daheim in Frankreich sein könnten ...«
»In meines Herrn kleiner Wohnung«, erwiderte Conseil, »in
meines Herrn Museum! Und ich hätte bereits meines Herrn Fossilien klassifiziert! Und der Babirussa meines Herrn wäre im Jardin
des Plantes in seinem Käfig und zöge alle Neugierigen von Paris
herbei!«
»So ist’s, Conseil, und ich denke, unfehlbar spottet man über
uns!«
»Ganz gewiß wird man sich über meinen Herrn lustig machen«,
erwiderte ruhig Conseil. »Und darf ich’s heraus sagen ...?«
»Sag’s nur heraus, Conseil.«
»Nun, es widerfährt meinem Herrn nur, was er verdient!«
»Wirklich!«
»Wenn man die Ehre hat, so ein Gelehrter zu sein, wie mein
Herr, gibt man sich nicht preis ...«
Conseil hatte noch nicht ausgeredet, da ließ sich mitten im allgemeinen Schweigen eine laute Stimme vernehmen. Ned Land rief:
»Oho! der fragliche Gegenstand unterm Wind, quer vor uns!«
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6. KAPITEL
Mit vollem Dampf
Auf diesen Ruf stürzte die gesamte Mannschaft, Kommandant, Offiziere, Matrosen und Schiffsjungen, hin zum Harpunier, selbst die
Ingenieure verließen ihre Maschine, die Heizer ihr Feuer. Es wurde
Befehl zum Einhalten gegeben, und die Fregatte fuhr nicht mehr
weiter, als ihre Kraft noch reichte.
Es war damals völlig dunkel, und so trefflich des Kanadiers Augen waren, so fragte ich doch, wie er nur sehen gekonnt, und was er
gesehen. Mein Herz klopfte zum Bersten.
Aber Ned Land hatte nicht geirrt, und wir alle sahen den Gegenstand, auf den er mit der Hand wies.
2 Kabellängen von der ›Abraham Lincoln‹ entfernt schien das
Meer an der Oberfläche beleuchtet. Es war nicht bloß ein Phosphoreszieren, und man konnte sich nicht irren. Das einige Klafter unter dem Wasserspiegel verborgene Ungeheuer warf den sehr
starken, aber unerklärlichen Glanz, von dem schon mehrere Kapitäne berichtet hatten. Diese prächtige Ausstrahlung mußte von
dem Träger einer starken Leuchtkraft herrühren. Die auf der Meeresfläche erleuchtete Stelle bildete ein ungeheures sehr langes Oval,
in dessen Zentrum ein glühender Brennpunkt von unerträglichem
Glanz Strahlen warf, die stufenweise schwächer allmählich verloschen.
»Es ist nur eine Anhäufung phosphoreszierender Elementarteilchen«, rief einer der Offiziere.
»Nein, mein Herr«, erwiderte ich mit Überzeugung. »Niemals
können die Pholaden und Salpen ein so starkes Licht erzeugen.
Dieser Glanz ist seiner Natur nach elektrisch ... Übrigens, sehen
Sie, sehen Sie! Es ändert seine Stelle, bewegt sich voran, rückwärts!
Es stürzt auf uns los!«
Allgemeines Geschrei auf der Fregatte.
»Still!« rief Kommandant Farragut. »Steuer unterm Wind, ganz!
Maschine rückwärts!«
Die Matrosen stürzten sich auf das Steuer, die Ingenieure zu ihrer Maschine.
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Der Dampf wurde sogleich gehemmt, und die ›Abraham Lincoln‹ drehte sich links, beschrieb einen Halbkreis.
»Steuer rechts! Maschine voran!« rief Kommandant Farragut.
Diese Befehle wurden ausgeführt, und die Fregatte entfernte
sich rasch von der leuchtenden Stelle.
Ich irre. Sie wollte sich entfernen, aber das Wundertier näherte
sich mit doppelter Geschwindigkeit.
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Wir waren außer Atem. Bestürzung weit mehr als Furcht
machte uns stumm und unbeweglich. Das Tier wurde unser spottend Meister. Es fuhr um die Fregatte herum und umzog sie mit
elektrischen Streifen. Darauf entfernte es sich 2 bis 3 Meilen, indem es einen phosphoreszierenden Streifen hinter sich ließ wie die
Lokomotive ihre Dampfwirbel. Es wollte nur aus der Entfernung
seinen Anlauf nehmen und schoß plötzlich vom dunkeln Horizont
aus mit schrecklicher Geschwindigkeit auf die ›Abraham Lincoln‹
los, hielt jedoch in einer Entfernung von 20 Fuß auf einmal an, verschwand – nicht durch Untertauchen, denn sein Glanz blieb ungeschwächt – sondern als wäre die Quelle der glänzenden Ausströmung mit einemmal versiegt! Darauf kam es auf der anderen Seite
des Schiffs wieder zum Vorschein, sei es, daß es um es herum- oder
darunter herfuhr. Jeden Augenblick konnte ein Zusammenstoß
stattfinden, der uns vernichtet hätte.
Ich wunderte mich jedoch über die Manöver der Fregatte. Sie
floh, griff nicht an. Sie wurde verfolgt, sollte aber verfolgen, und ich
sagte dies dem Kommandanten. Sein Angesicht, das gewöhnlich so
feste Züge hatte, ließ eine unbeschreibliche Bestürzung erkennen.
»Herr Arronax«, erwiderte er mir, »ich weiß nicht, mit was für
einem furchtbaren Geschöpf ich zu tun habe, und ich will nicht
unvorsichtig inmitten dieser Dunkelheit meine Fregatte aufs Spiel
setzen. Zudem, wie soll man das Unbekannte angreifen, wie sich
dagegen verteidigen. Warten wir den Tag ab, dann sollen die Rollen
wechseln.«
»Sie haben, Kommandant, über die Natur des Tieres keinen
Zweifel mehr?«
»Nein, mein Herr, es ist offenbar ein Riesennarwal, und dazu ein
elektrischer.«
»Vielleicht«, fügte ich bei, »kann man ihm ebensowenig nah
kommen als wie einem Zitterfisch!«
»Jawohl«, erwiderte der Kommandant, »und wenn das Tier dazu
die Kraft eines Blitzschlags besitzt, so ist es sicherlich das fürchterlichste, das jemals aus des Schöpfers Hand gekommen ist. Deshalb,
mein Herr, werde ich vorsichtig sein.«
Die Nacht über blieb die ganze Bemannung auf den Beinen, an
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Schlaf konnte niemand denken. Da die ›Abraham Lincoln‹ sich
an Schnelligkeit nicht mit dem Gegner messen konnte, so hielt er
sich bei schwachem Dampf und fuhr gemach. Der Narwal dagegen
machte es der Fregatte nach, ließ sich auf den Wellen wiegen und
schien entschlossen, den Schauplatz des Kampfs nicht zu verlassen.
Um Mitternacht jedoch verschwand er; oder, richtiger zu sagen,
er »verlosch« als wie ein gewaltiger Leuchtwurm. War er geflohen?
Man mußte es fürchten, nicht hoffen. Aber 7 Minuten vor 1 vernahm man ein betäubendes Zischen, wie das, welches ein mit äußerster Heftigkeit emporgeschleuderter Wasserstrahl verursacht.
Kommandant Farragut, Ned Land und ich befanden uns damals
auf dem Vorderdeck und schauten mit gierigen Blicken durch das
tiefe Dunkel.
»Ned Land«, fragte der Kommandant, »Sie haben wohl oft das
brausende Zischen der Walfische gehört?«
»Ja, mein Herr, aber noch niemals von solchen Walfischen, wie
der ist, der mir 2.000 Dollar verschafft hat.«
»Wahrhaftig, Sie haben ein Recht auf den Preis. Aber sagen Sie
mir doch, ist dieses Getöse nicht dasselbe, wie es die Walfische machen, wann sie Wasser aus ihren Luftlöchern ausstoßen?«
»Genau dasselbe, mein Herr, aber dieses ist ohne alle Vergleichung stärker. Ein Irrtum ist dabei nicht möglich. Es gehört also
wohl das Tier, das da in unseren Gewässern sich umhertreibt, zum
Walfischgeschlecht. Mit Ihrer Erlaubnis, mein Herr«, fügte der
Harpunier bei, »werden wir morgen bei Tagesanbruch zwei Worte
mit ihm reden.«